Tauziehen zwischen Geopolitik und Nachfrageaussichten

Russland-Konflikt: Westen sucht nach adäquater Antwort
Gestern erreichte der russische Angriffskrieg in der Ukraine eine neue Eskalationsstufe, als das Nachbarland Polen erstmals russische Drohnen im eigenen Luftraum abschießen musste. Aus dem Kreml hieß es dazu nur, man habe nicht beabsichtigt, Drohnen nach Polen zu schicken. Der Westen verurteilte die Aktion scharf, Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius bezeichnete den Angriff als "Provokation gegenüber der gesamten NATO".

Pistorius geht davon aus, dass die russischen Drohnen „ganz offenkundig gezielt auf diesen Kurs gebracht worden“ seien. Polen selbst hatte noch gestern Morgen einen Antrag auf Beratung an die NATO gestellt – das laut Artikel 4 des NATO-Vertrags übliche Vorgehen, wenn sich ein Mitglied von außen bedroht fühlt. Vertreter des Verteidigungsbundes kamen deshalb gestern in Brüssel zusammen. Ein abschließendes Urteil gibt es noch nicht. Die Prüfung sei noch im Gange, sagte Generalsekretär Mark Rutte in Brüssel.

Auch aus den USA kamen erste Reaktionen auf die jüngste russische Provokation. So hieß es aus dem Weißen Haus, dass ein Telefonat zwischen Donald Trump und dem polnischen Präsidenten Karol Nawrocki geplant sei. Ob dieses stattgefunden hat, ist allerdings unklar. Der US-Präsident selbst wählte einmal mehr Social Media als Sprachrohr seiner Wahl. "Was ist mit Russland, das den polnischen Luftraum mit Drohnen verletzt?" schrieb Trump auf Truth Social und fügte an "Los geht's!"

Dieser zweite Teil sorgte an den Ölbörsen für einen kleinen Preissprung, obwohl der US-Präsident – wie so oft – offen ließ, was er damit meinen könnte. Die Marktteilnehmer interpretierten seinen Kommentar aber offenbar dahingehend, dass die USA eine schnelle Antwort für Russland parat hätten, beispielsweise in Form von neuen Sanktionen, die Trump seit Wochen immer wieder angedeutet hatte.

Seit dem gestrigen Post hat sich aber weder Trump, noch das Weiße Haus noch einmal zur Russland-Frage geäußert. Zuletzt hatte man den Eindruck gewonnen, dass Washington sich scheut, tatsächlich konkrete Maßnahmen gegen Moskau einzuleiten. Trumps Vorschlag an die EU, Sekundärzölle gegen China und Indien zu verhängen, denen die USA dann folgen werde, dürfte ein Manöver zum Zeitgewinn gewesen sein. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass sich die 27 EU-Länder auf einen solchen Vorschlag einlassen.

Marktlage
Nach drei Tagen des Kursanstieges stabilisieren sich die Ölbörsen am Donnerstag wieder. Anleger reagieren auf neue Äußerungen von US-Präsident Donald Trump zu Russland und spekulieren über mögliche Maßnahmen Washingtons im Ukraine-Konflikt.

Aufgrund eines Social Media Posts des US-Präsidenten war es gestern noch zu einigen Short Coverings gekommen, da die Anleger Trumps Worte dahingehend interpretierten, dass aus den USA eine schnelle und deutliche Antwort auf die jüngste Provokation aus Russland zu erwarten ist.

„Die Schlussfolgerung lautet, dass sich die Beziehungen zwischen Trump und Putin eher verschlechtern als verbessern, was die Wahrscheinlichkeit einer Reaktion erhöht“, erläutert Rebecca Babin von der CIBC Private Wealth Group. Auch Mukesh Sahdev, Leiter des Rohstoffbereichs bei Rystad Energy, meint: „Die westliche Haltung gegenüber Russland verhärtet sich. Wir könnten von unvorhersehbaren Schritten überrascht werden. Der Markt sollte sich auf mehr Volatilität einstellen.“

Die jüngsten Drohnenvorfälle in Polen gelten jedoch nicht als unmittelbare Gefahr für die Ölversorgung. Am Markt richtet sich der Blick damit wieder mehr auf fundamentale Faktoren: steigende Lagerbestände, sinkende Erzeugerpreise und eine Abschwächung des Arbeitsmarktes deuteten zuletzt auf eine nachlassende Dynamik der US-Wirtschaft hin.

Vor diesem Hintergrund erwarten Analysten, dass die US-Notenbank Federal Reserve nächste Woche die Leitzinsen senkt. „Angesichts der schwächeren Arbeitsmarktdaten dürfte das FOMC [der Offenmarktausschuss der Fed, Anm.d.Red.] kommende Woche eine Senkung um 25 Basispunkte beschließen“, glaubt unter anderem Stephen Brown von Capital Economics. Er fügt an, dass möglicherweise sogar eine Senkung um 50 Basispunkte für Schlagzeilen sorgen könnte.

Für den Ölmarkt wirken Zinssenkungen tendenziell bullish, da sie im besten Fall die Konjunktur und damit auch die Nachfrage ankurbeln. Allerdings scheint es um diese aktuell nicht allzu gut bestellt, wie der DOE-Bericht von gestern gezeigt hat. Mit dem Rückgang der Sommernachfrage dürfte sich in den kommenden Wochen und Monaten das erwartete Überangebot immer stärker manifestieren.

Die EIA hatte in ihrem Monatsreport von Dienstag ein deutliches Überangebot von +1,73 Mio. B/T in 2025 und +1,55 Mio. B/T in 2026 prognostiziert. Heute folgen die Monatsberichte von IEA und OPEC, von denen zumindest ersterer ein ähnliches Bild zeichnen dürfte. Wie die OPEC nach der Entscheidung, weitere Produktionssteigerungen durchzuführen, in die Zukunft blickt, bleibt spannend. Zuletzt waren die Nachfrageprognosen der Gruppe immer deutlich positiver ausgefallen als jene von EIA und IEA.

Insgesamt bleibt das Marktumfeld für die Anleger ein schwieriges Terrain. Die Märkte bewegen sich „in einem Spannungsfeld zwischen zunehmend pessimistischen Fundamentaldaten und steigenden geopolitischen Risiken“, fassen die Analysten der Citigroup zusammen. Die Bank bekräftigt ihre Prognose, wonach der Brent-Preis bis zum Jahresende und in das Jahr 2026 hinein auf den unteren 60-Dollar-Bereich fallen dürfte.

Auch unsere fundamentale Einschätzung bleibt heute neutral, da sich die Aussicht auf neue Sanktionen gegen Russland sowie die grundsätzlich gestiegenen Risikoprämie mit bearishen Marktberichten und der Aussicht auf ein deutliches Überangebot in den kommenden Monaten die Waage hält. Bei den Inlandspreisen ergeben sich im Vergleich zu gestern Morgen nur geringe Abweichungen.

Daniel Ehrler
Die Marktnews beziehen sich auf die Entwicklung der internationalen Rohöl- und Produktnotierungen. Die effektive Preisentwicklung in der Schweiz kann aufgrund von weiteren Einflussfaktoren wie Transportkosten, Rheinfrachten oder Dollarkurs jedoch abweichen.

Die Lienert + Ehrler AG übernimmt keine Haftung für Vollständigkeit und Richtigkeit der auf dieser Seite publizierten Informationen.