
Narrativ der Überversorgung kommt allmählich in der Ölindustrie an
Nicht nur bei Marktbeobachtern und Institutionen wie IEA und EIA scheint sich mittlerweile die Auffassung durchgesetzt zu haben, dass der Ölmarkt auf ein Überangebot zusteuert oder sogar bereits mittendrin steckt. Auch in den Chefetagen einiger namhafter Konzerne der Ölindustrie hat die Idee des überversorgten Marktes Einzug gehalten. Dies zeigte sich beim Energy Intelligence Forum - einer Konferenz der Energiebranche, die noch bis einschließlich heute in London stattfindet.
"In der zweiten Jahreshälfte ist mehr Angebot auf den Markt gekommen, weil die OPEC ihre Fördermengen stetig erhöht hat und auch die Beiträge von Nicht-OPEC-Ländern wie Guyana, Norwegen und Brasilien [zum weltweiten Angebot, Anm. d. Red.] gestiegen sind", sagte beispielsweise Russell Hardy, der Vorstandsvorsitzende des Handelshauses Vitol, der davon ausgeht, dass die Ölpreise 2026 durchschnittlich bei 60 Dollar pro Barrel liegen dürften.
Der Chef der Gunvor Group, Torborn Tornquist, ist ebenfalls der Meinung, dass sich die Lage am Ölmarkt ändert. Die Ölbranche habe die Geschichte mit der Überversorgung "schon einmal gehört, und die Leute haben sich daran die Finger verbrannt. Aber dieses Mal, zum jetzigen Zeitpunkt, denke ich, dass die Erzählung vom Überangebot etwas mehr Substanz hat," so Tornquist, demzufolge derzeit deutlich mehr Öl auf den Markt kommt, obwohl keine zusätzliche Nachfrage vorhanden ist, die die Mengen absorbieren könnte. Während der Gunvor-Chef daher mit einem weiteren Rückgang der Ölpreise rechnet, geht er allerdings nicht davon aus, dass das Überangebot so stark sein wird, dass sich das Einlagern von Rohöl übermäßig rentiert.
Ben Luckock, der Global Head of Oil bei Trafigura, sagt zum Thema Preisentwicklung: "Die Realität ist, dass es von hier aus wahrscheinlich noch weiter sinken wird." Konkrete Preisniveaus nannte Luckock jedoch nicht.
Zumindest Russell Hardy warnt allerdings davor, die Dinge zu bearish zu sehen. Seiner Ansicht nach könnte der Markt zu zuversichtlich sein, wenn es um die Produktion von Ländern wie Iran und Venezuela gehe, die beide derzeit mit umfangreichen Sanktionen zu kämpfen haben.
Marktlage
Die Rohölpreise an ICE und NYMEX bauten am gestrigen Dienstag die Mehrmonatstiefs von Freitag weiter aus. Dabei belastete weiterhin hauptsächlich die Unsicherheit im Hinblick auf die Handelsbeziehungen zwischen den USA und China - der beiden größten Ölverbraucher der Welt - sowie die Aussicht auf ein umfangreiches Überangebot.
"Der Rückgang unter 65 Dollar war der Beginn einer Preiskorrektur, die Brent unter 60 Dollar fallen lassen wird", greift Robert Rennie, Leiter der Rohstoff- und Kohlenstoffforschung bei der Westpac Banking Corp., der weiteren Preisentwicklung voraus und verweist dabei darauf, dass sowohl die OPEC als auch die IEA in ihren Monatsberichten die steigende Produktion thematisiert hätten: "Die derzeitige Überversorgung auf den Rohölmärkten wird sich noch erheblich verschärfen," so Rennie.
"Der Markt konzentriert sich angesichts gemischter Nachfragesignale auf das Überangebot," meint derweil der Analyst Emril Jamil von LSEG zur aktuellen Stimmung am Markt. "Nachlassende geopolitische Risiken und eskalierende Handelsspannungen üben ebenfalls zusätzlichen Druck auf die Preise aus“, fügt Jamil hinzu. Was die geopolitischen Risiken anbelangt, bleiben die Marktteilnehmer gespannt, wie sich die zweite Phase der Verhandlungen über den Friedensplan für den Gazastreifen entwickeln wird.
Bereits gestern gab es erste gegenseitige Vorwürfe von Israel und Hamas, die jeweils andere Seite habe den Waffenstillstand gebrochen. Und ob die Hamas, wie im 20-Punkte-Plan von Trump gefordert, vollständig auf Waffen verzichtet, bleibt weiterhin ungewiss. Sollte die Waffenruhe nicht halten, dürften die Marktteilnehmer die geopolitische Risikoprämie wieder erhöhen.
Allmählich rückt aber auch die nächste Zinssitzung der Fed wieder in den Fokus. Eine Rede von US-Notenbankchef Jerome Powell wurde gestern von den Marktteilnehmern als Signal dafür interpretiert, dass die Zinsen bei der nächsten Sitzung des Offenmarktausschusses Ende Oktober noch einmal um 25 Basispunkte gesenkt werden. Dies würde der US-Konjunktur und damit auch der Ölnachfrage des Landes einen neuen Schub geben.
Die wöchentlichen Daten des DOE zur US-Ölnachfrage werden zusammen mit dem Bestandsbericht in dieser Woche erst morgen um 18 Uhr erscheinen, da am Montag in den USA Feiertag war. Die API-Bestandsschätzungen sind daher heute um 22:30Uhr fällig. In ersten Schätzungen gehen Analysten davon aus, dass die US-Rohölvorräte vergangene Woche leicht gestiegen sind, während die Kraftstoffvorräte abgenommen haben sollen.
Heute Morgen bleiben die Ölfutures zunächst im Bereich der Vortagestiefs. Beiden Inlandspreisen zeichnet sich daher aktuell immer noch Potenzial für Abschläge im Vergleich zu gestern ab.